2 Stimmen und ein Richtungsstreit
„Ich stelle fest, dass der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder (des Deutschen Bundestages) nicht erreicht hat.“ Es war 13:22 als Kai-Uwe von Hassel, der Präsident des Bundestages, diesen Satz vortrug. Rainer Barzel fehlten 2 Stimmen, Willy Brandt blieb Kanzler.
Ein Misstrauensvotum wie am 27. April 1972 hatte es davor in der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. In den Jahren zuvor hatte sich eine Auseinandersetzung entwickelt, die grundsätzlicher Natur war. Ja, man konnte sie durchaus als Paradigmenstreit bezeichnen. Brandt hatte in seiner Regierungserklärung 1969 zwei entscheidende Grundprinzipien formuliert: Wir wollen mehr Demokratie wagen! So der eine. Und: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Das galt auch für die Nachbarstaaten im Osten. Der 1963 bereits von Brandt und Egon Bahr verkündete strategische Perspektivenwechsel in der Deutschland- und Ostpolitik war von der Regierung Brandt/Scheel konsequent umgesetzt worden. Der Wandel durch Annäherung war Realität geworden. Eine Realität, die von der konservativen Opposition nicht akzeptiert wurde. Schon 1963 hatte man Egon Bahr wegen seiner Wandel-durch-Annäherungs-Formel als „Ketzer“ beschimpft, jetzt war die Rede vom Ausverkauf der deutschen Interessen. Dass der Wandlungsprozess zum Beispiel vom fünfköpfigen Friedensnobelpreiskomitee völlig anders bewertet worden war und Brandt rund ein halbes Jahr zuvor in Oslo diesen Preis hatte entgegen nehmen können, nahm die CDU/CSU in Deutschland seinerzeit nicht zur Kenntnis.
Das Misstrauensvotum emotionalisierte die Bevölkerung. Der Autor wohnte in diesen Tagen in Oberhausen. Während in Bonn die Debatte lief, protestierten viele Menschen auf den Straßen für Brandt. In Oberhausen sperrten die Müllwerker und andere Mitarbeiter der Stadtwerke an der Kreuzung Schwartz-, Mülheimer- und Virchowstraße, damals wie heute ein sehr belebter Verkehrskontenpunkt. Die Müllfahrzeuge blockierten die Kreuzung und damit auch die freie Fahrt auf einer Bundesstraße. Es bildeten sich große Staus. Die Protestierenden verteilten Flugzettel auf denen zu lesen war, warum die Kreuzung zu war. Und das Hupkonzert galt nicht der Sperrung, sondern richtete sich gegen den CDU/CSU-Plan. Solche und ähnliche Aktionen gab es damals bundesweit.
Brandt zog aus dem Misstrauensvotum die richtigen Konsequenzen. Er strebte Neuwahlen an. Im September – aus Rücksicht auf die Olympischen Spiele in München erst so spät – stellte er die Vertrauensfrage, die, nach ihrem taktisch gewollten Scheitern, dem Bundespräsidenten Gustav-Heinemann die Möglichkeit gab, das Parlament aufzulösen. Am 19. November 1972 fand die Wahl zum 7. Deutschen Bundestag statt. Die SPD erzielte 45,8 %, das beste Ergebnis in der Geschichte der Partei.