Wolfgang Hellmich

Vor 25 Jahren: Der Bundestag verabschiedet die Erklärung zur Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze

Wolfgang Hellmichvon Wolfgang Hellmich MdB

„Wenn am Ende dieses Jahrhunderts in Europa in Sachen Grenzen etwas vorzubehalten oder etwas zu verhandeln ist, dann die Aufhebung von Grenzen, nicht aber ihre Verschiebung auf diesem Kontinent!“

Mit diesen Worten reagiert der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hans-Jochen Vogel auf die Rede zur Lage der Nation von Bundeskanzler Helmut Kohl in der 173. Sitzung des Deutschen Bundestages am 8. November 1989, dem Vortag des Mauerfalls. Neben allen Hoffnungen auf ein wiedervereintes Deutschland spiegelt diese Sitzung auch die Unsicherheit angesichts einer zunehmend kritischen und unklaren Situation wieder.

Längst nicht alle Staaten Europas blicken damals wohlwollend auf die Wiedervereinigungsbestrebungen der Bundesregierung. Vor allem in Polen schürt diese Entwicklung die Sorge über mögliche deutsche Gebietsansprüche jenseits der Oder-Neiße-Grenze. Polen wurde als Puffer wider Willen zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und Russland seit dem frühen 18. Jahrhundert immer wieder unter dem Mühlstein der Interessen Dritter aufgerieben. Im Nachgang des deutschen Überfalls am 1. September 1939 hatte Polen wie kein anderes Land unter deutscher Besatzung und Gräuel zu leiden. In Warschau fürchtet man, dass ein erstarkender Nationalismus im Nachbarland auch die Revision bestehender Grenzen und die Einverleibung von Teilen Polens zur Folge haben könne. Bereits 1950 erkannte die erst ein Jahr zuvor gegründete DDR die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze an. Ein Schritt, der besonders von der westdeutschen Rechten mit Häme und dem Versprechen kommentiert wurde, die Frage nach dem Grenzverlauf zwischen Polen und Deutschland im Falle der Wiedervereinigung neu diskutieren zu wollen. Wie tief der Graben zwischen den politischen Akteuren in dieser Frage war, zeigten nicht zuletzt die mit äußerster Vehemenz geführten Debatten im Deutschen Bundestag um die Ratifizierung der sogenannten Ostverträge unter Bundeskanzler Willy Brandt 1972.

Das sich abzeichnende Ende der DDR gibt den rückwärtsgewandten Kräften in der alten BRD neuen Auftrieb und veranlasst diese, die polnische Westgrenze erneut in Frage zu stellen. Vereinzelt ist gar die Rede von einem wiedervereinigten Deutschland in den Grenzen von 1937. Auch der Bund der Vertriebenen sieht nunmehr die Stunde gekommen, Reparationsforderungen zu stellen und kann diesem Anliegen als einflussreiche Gruppierung auch innerhalb der CDU durchaus Gehör verschaffen. Im Versuch, die Reihen seiner Partei hinter sich zu schließen und die deutsche Wiedervereinigung durchaus auch als persönlichen wie parteipolitischen Erfolg zu inszenieren, sieht Bundeskanzler Helmut Kohl zunächst davon ab, diesen Forderungen eine klare Absage zu erteilen. Man fühle sich den Ostverträgen zwar verpflichtet, sie verlören im Falle der Wiedervereinigung aber ihre juristische Grundlage und müssten samt Grenzfragen neu erörtert werden, so der damalige Kanon aus dem Bonner Bundeskanzleramt. Ohne Zweifel: Der europäische Gedanke steht in jenen Tagen am Scheideweg. An der Transformation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hin zur Europäischen Union wird längst gearbeitet. Ein wiedervereinigtes Deutschland im Einklang mit seinen Nachbarn ist eine tragende Säule der europäischen Integration. Deutsche Forderungen nach neuen Grenzverläufen wären dazu geeignet, das gewachsene europäische Klima der Verständigung und das gegenseitiges Vertrauen wieder auf Null zu setzen. Dies hätte das Scheitern des europäischen Einigungsprozesses zur Folge.

Vor diesem Hintergrund hat der mit überwältigender Mehrheit im Plenum angenommene Entschließungsantrag vom 8. November 1989 über das Festhalten am Vertrag von Warschau eine wegbereitende, ja, weichenstellende Wirkung. Zwar ist die Oder-Neiße-Grenze auch in dieser Entschließung juristisch noch nicht fixiert – dies sollte noch bis zum Inkrafttreten des Deutsch-Polnischen Grenzvertrages am 16. Januar 1992 dauern – doch zeigt die Entschließung vom 8. November 1989, dass Willy Brandt 1970 mit seinem Kniefall vor dem Ehrenmahl der Helden des Warschauer Ghettos ein zeitgeschichtliches Ereignis schuf, das zu ignorieren selbst die rückwärtsgewandtesten Kräfte des Deutschen Bundestages nicht mehr wagen konnten.

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