Es muss immer um die aufrichtige Erinnerung an die Opfer und den Willen zur Versöhnung gehen!
Zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus
Der 23. August ist kein Datum, das eine besondere Stellung im kollektiven Bewusstsein der Europäerinnen und Europäer einnimmt. Das verwundert zunächst nicht, wird doch der 23.08.1939, der Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, von anderen Gedenktagen überschattet, die uns auf prägnantere Weise nicht nur an den Zweiten Weltkrieg, aber auch die Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert erinnern.
Dabei ist die Symbolik dieses „Teufelspakts“ von großer Tragweite: Reichten sich doch an jenem Tag zwei ideologische Todfeinde an die Hand um Polen und kurz darauf weitere mitteleuropäische Länder zu unterwerfen. Dem nationalsozialistischen (1933–1945) und stalinistischen (1927–1953) Terror fielen dutzende Millionen Menschen zum Opfer. Das Morden im Namen beider Ideologien hatte bereits Jahre vor dem 23. August 1939 begonnen. Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 begann in Deutschland die Verfolgung von politischen Gegnern und insbesondere den deutschen Juden. Der Siegeszug der Bolschewiki in Russland wurde bereits seit 1917 von Gewalttaten überschattet, die später unter der Führung Josef Stalins ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß erreichen sollten.
Die meisten Menschen wurden in den Jahren 1932–1945 in mitteleuropäischen Gebieten ermordet, die unter deutscher Besatzung oder sowjetischer Herrschaft standen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder nennt sie in seinem gleichnamigen Buch (München, 2013) die „Bloodlands“ – Polen, die baltischen Staaten, das damalige Westrussland und die Ukraine. In diesen Gebieten ließ Stalin gezielt Millionen von Ukrainern verhungern und Hunderttausende Angehörige ethnischer Minderheiten (vor allem Polen) hinrichten oder in Arbeitslager deportieren. Hier errichteten die Nationalsozialisten ihre Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Todesgruben. 14 Millionen wehrlose Menschen fielen der brutalen Gewalt zum Opfer. Rechnet man noch Soldaten, die im Krieg getöteten Zivilisten sowie Opfer stalinistischer Verfolgungen nach dem Krieg hinzu, so steigt die Zahl der insgesamt in den „Bloodlands“ ums Leben gekommenen Menschen ins Exorbitante.
Beide Totalitarismen sind traurige Tiefpunkte der europäischen Geschichte. Auschwitz, Belzec, Majdanek, Treblinka, Ponary und Babyn Jar, Holodomor, Gulag, Katyn – all diese Namen stehen für das schier undenkliche Grauen, das Menschen anderen Menschen angetan haben: Hungertod, Vergasung, Erschießung, Tod durch Zwangsarbeit, Todesmärsche. Die Namensliste von Orten und Ereignissen, die synonymisch für das Morden beider totalitärer Systeme stehen, ließe sich noch weiter fortführen. Aber schon beim Versuch, Erinnerungsorte nationalsozialistischen und stalinistischen Terrors gemeinsam aufzuzählen, drängen sich ernste Zweifel auf. Darf man das? Müssten beide verbrecherischen Systeme nicht separat betrachtet werden? Wird dadurch nicht eine Gleichstellung zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus herbeigeführt, die die Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie mit stalinistischen Morden auf eine Ebene stellt, was somit in letzter Konsequenz auch zur Relativierung des Holocaust führt? Diese und viele andere Fragen beschäftigten nicht nur die Fachwelt, sondern auch die breite Öffentlichkeit, als die Idee der Einführung eines Gedenktages zur Erinnerung an die Opfer beider totalitären Systeme mit der Prager Erklärung von 2008 initiiert wurde.
Der Holocaust ist und bleibt das präzedenzlose Menschheitsverbrechen. Gerade in Deutschland müssen wir darauf achten, dass dieser Genozid am jüdischen Volk und all die anderen unsäglichen Verbrechen des deutschen NS Unrechtsstaats niemals relativiert oder gar vergessen werden.
Der Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus darf deshalb auch nicht dazu missbraucht werden, einzelne Verbrechen ab- oder aufzuwerten oder gar zu relativieren. Trotzdem kann oder muss der Terror beider Systeme nicht nur einzeln, sondern auch als ein größeres, europäisches Phänomen betrachtet werden – insbesondere dort, wo Menschen unter beiden Systemen leiden mussten. Die Nationalsozialisten verfolgten Menschen nicht nur nach Kriterien ihrer kranken Rassenideologie, aber auch aufgrund ihrer politischen, religiösen oder sexuellen Orientierung. Aber auch dem stalinistischen Terror fielen Millionen von Menschen aufgrund ihrer Ethnie zum Opfer. In beiden Regimen wurden Lager errichtet, in denen Menschen systematisch gequält und ermordet wurden. Die Herrschaftszeit beider Diktatoren bleibt das schwärzeste Kapitel unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.
Indem alle Verbrechen des Stalinismus und Nationalsozialismus an einem Gedenktag subsumiert werden, soll die Erinnerung an alle Opfer vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg aufrechterhalten werden. Doch während die Erinnerung an die Schreckenstaten der Nationalsozialisten nach 1945 sowohl in West- als auch in Osteuropa lebendig blieb, konnten die Gesellschaften im sowjetischen Machtbereich, die zum Teil Opfer beider Totalitarismen waren, erst nach 1989 offen über kommunistische Verbrechen diskutieren. Mit der EU-Osterweiterung von 2004 ist die Europäische Union nicht nur in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zusammengewachsen. Auch die europäische Erinnerungskultur wurde dadurch bereichert. Diese muss ebenfalls zusammenwachsen, wenn wir Europäer uns in Zukunft als eine Schicksalsgemeinschaft verstehen wollen. Wenn er im Sinne einer aufrichtigen Erinnerung an die Opfer und den Willen zur Versöhnung genutzt wird, kann der 23. August als gemeinsamer europäischer Gedenktag durchaus ein sinnvoller Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa sein.